Herausforderungen der Stadtkulturen

Herausforderungen der Stadtkulturen

Das neue Jerusalem, die heilige Stadt (vgl. Offb 21,2-4) ist das Ziel, zu dem die gesam­te Menschheit unterwegs ist. Es ist interessant, dass die Offenbarung uns sagt, dass die Erfül­lung der Menschheit und der Geschichte sich in einer Stadt verwirklicht. Wir müssen die Stadt von einer kontemplativen Sicht her, das heißt mit einem Blick des Glaubens erkennen, der jenen Gott entdeckt, der in ihren Häusern, auf ihren Straßen und auf ihren Plätzen wohnt. Die Ge­genwart Gottes begleitet die aufrichtige Suche, die Einzelne und Gruppen vollziehen, um Halt und Sinn für ihr Leben zu finden. Er lebt unter den Bürgern und fördert die Solidarität, die Brü­derlichkeit und das Verlangen nach dem Guten, nach Wahrheit und Gerechtigkeit. Diese Gegen­wart muss nicht hergestellt, sondern entdeckt, enthüllt werden. Gott verbirgt sich nicht vor de­nen, die ihn mit ehrlichem Herzen suchen, auch wenn sie das tastend, auf unsichere und weit-schweifige Weise tun.

In der Stadt wird der religiöse Aspekt durch verschiedene Lebensstile und durch Gebräuche vermittelt, die mit einem Gefühl für die Zeit, das Territorium und die Beziehungen verbunden sind, das sich von dem Stil der Landbevölkerun­gen unterscheidet. Im Alltag kämpfen die Bürger oftmals ums Überleben, und in diesem Kampf verbirgt sich ein tiefes Empfinden für das Leben, das gewöhnlich auch ein tiefes religiöses Empfin­den einschließt. Das müssen wir berücksichtigen, um einen Dialog zu erzielen wie den, welchen der Herr mit der Samariterin am Brunnen führte, wo sie ihren Durst zu stillen suchte (vgl. Joh 4,7-26).

 

Es entstehen fortwährend neue Kulturen in diesen riesigen menschlichen Geographien, wo der Christ gewöhnlich nicht mehr derjenige ist, der Sinn fördert oder stiftet, sondern derje­nige, der von diesen Kulturen andere Sprachge­bräuche, Symbole, Botschaften und Paradigmen empfängt, die neue Lebensorientierungen bie­ten, welche häufig im Gegensatz zum Evange­lium Jesu stehen. Eine neue Kultur pulsiert in der Stadt und wird in ihr konzipiert. Die Synode hat festgestellt, dass heute die Verwandlungen dieser großen Gebiete und die Kultur, in der sie ihren Ausdruck finden, ein vorzüglicher Ort für die neue Evangelisierung sind.Das erfordert, neuartige Räume für Gebet und Gemeinschaft zu erfinden, die für die Stadtbevölkerungen an­ziehender und bedeutungsvoller sind. Aufgrund des Einflusses der Massenkommunikationsmittel sind die ländlichen Bereiche von diesen kulturel­len Verwandlungen, die auch bedeutsame Verän­derungen in ihrer Lebensweise bewirken, nicht ausgenommen.

Das macht eine Evangelisierung nötig, welche die neuen Formen, mit Gott, mit den an­deren und mit der Umgebung in Beziehung zu treten, erleuchtet und die grundlegenden Werte wachruft. Es ist notwendig, dorthin zu gelan­gen, wo die neuen Geschichten und Paradigmen entstehen, und mit dem Wort Jesu den innersten Kern der Seele der Städte zu erreichen. Man darf nicht vergessen, dass die Stadt ein multikulturel­ler Bereich ist. In den großen Städten kann man ein „Bindegewebe“ beobachten, in dem Grup­pen von Personen die gleichen Lebensträume und ähnliche Vorstellungswelten miteinander teilen und sich zu neuen menschlichen Sek­toren, zu Kulturräumen und zu unsichtbaren Städten zusammenschließen. Unterschiedliche Kulturformen leben de facto zusammen, handeln aber häufig im Sinne der Trennung und wenden Gewalt an. Die Kirche ist berufen, sich in den Dienst eines schwierigen Dialogs zu stellen. Es gibt Bürger, die die angemessenen Mittel für die Entwicklung des persönlichen und familiären Lebens erhalten, andererseits gibt es aber sehr viele „Nicht-Bürger“, „Halbbürger“ oder „Stadt­streicher“. Die Stadt erzeugt eine Art ständiger Ambivalenz. Während sie nämlich ihren Bürgern unendlich viele Möglichkeiten bietet, erscheinen auch zahlreiche Schwierigkeiten für die volle Le­bensentfaltung vieler. Dieser Widerspruch ver­ursacht erschütterndes Leiden. In vielen Teilen der Welt sind die Städte Schauplatz von Massen­protesten, in denen Tausende von Bewohnern Freiheit, Beteiligung und Gerechtigkeit fordern sowie verschiedene Ansprüche geltend machen, die, wenn sie nicht auf ein angemessenes Ver­ständnis stoßen, auch mit Gewalt nicht zumSchweigen gebracht werden können.

Wir dürfen nicht übersehen, dass sich in den Städten der Drogen- und Menschenhandel,

der Missbrauch und die Ausbeutung Minder­jähriger, die Preisgabe Alter und Kranker sowie verschiedene Formen von Korruption und Kri­minalität leicht vermehren. Zugleich verwandelt sich das, was ein kostbarer Raum der Begegnung und der Solidarität sein könnte, häufig in einen Ort der Flucht und des gegenseitigen Misstrau­ens. Häuser und Quartiere werden mehr zur Ab­sonderung und zum Schutz als zur Verbindung und zur Eingliederung gebaut. Die Verkündi­gung des Evangeliums wird eine Grundlage sein, um in diesen Zusammenhängen die Würde des menschlichen Lebens wiederherzustellen, denn Jesus möchte in den Städten Leben in Fülle ver­breiten (vgl. Joh 10,10). Der einmalige und volle Sinn des menschlichen Lebens, den das Evange­lium verkündet, ist das beste Heilmittel gegen die Übel der Stadt, auch wenn wir bedenken müs­sen, dass ein Evangelisierungsprogramm und ein einheitlicher, starrer Evangelisierungsstil für diese Wirklichkeit nicht angemessen sind. Doch das Menschliche bis zum Grunde zu leben und als ein Ferment des Zeugnisses ins Innerste der Herausforderungen einzudringen, in jeder belie­bigen Kultur, in jeder beliebigen Stadt, lässt den Christen besser werden und befruchtet die Stadt.

 

Papst Franziskus - Abschnitt aus dem apostolischen Schreiben "Evangelii Gaudium"